Niccolò Machiavelli

Niccolò Machiavelli lebte von 1469 bis 1527, also in der geistesgeschichtlichen Epoche der Renaissance. Es scheint mir zum Verständnis des Denkens Machiavellis angebracht zu sein, zunächst kurz über die Renaissance zu sprechen.

Die Renaissance

Die sich auflösende Tradition des Mittelalters mit seinem unverrückbaren wohl geordneten Weltbild, in dem Gott und Mensch, Erde und Kosmos, Glauben und Wissen alle ihre wohldefinierte Bedeutung und den ihnen zukommenden Rang und Stellung hatten, trifft zusammen mit der beginnenden Ausformung der Neuzeit. Diese Epoche des Übergangs wird im allgemeinen von etwa 1350 bis zum Ende des 16. Jahrhunderts angesetzt.
Die Renaissance ist keine Zeit der großen philosophischen Systeme, sondern der experimentierenden, die Möglichkeiten auslotenden Neuorientierung. Nur einige kulturgeschichtliche und gesellschaftliche Entwicklungslinien sollen kurz angedeutet werden.

  • Die von Petrarca und Boccacio begründete Geistesbewegung des Humanismus entzündet sich an der Abneigung gegen die erstarrte Tradition der Scholastik. Das Denken des Mittelalters erscheint den Humanisten in theologischen und logischen Spitzfindigkeiten festgefahren zu sein, und daher wird eine Wiedergeburt des Menschen aus dem antiken Geist heraus gefordert. Diese Wiedergeburt - die auf Französisch Renaissance heißt - verleiht der Epoche ihren Namen. Im Zentrum des humanistischen Denkens steht der Mensch und die ihm zugeordneten Themen Natur, Geschichte, Sprache.
    Neben dem Humanismus als prägender Geistesbewegung müssen aber auch andere Ereignisse und gesellschaftliche Entwicklungen genannt werden.
  • Die Entwicklung der Handels- und Geldwirtschaft führt zu sozialen Umwälzungen ebenso wie die Änderung der Kriegstechnik - Erfindung des Schießpulvers - , die die Stellung des Ritterstandes untergräbt.
  • Die Verbesserung der nautischen Technik - wesentliche Verbesserung des magnetischen Kompasses - führt zu großen Entdeckungsreisen (Kolumbus, Vasco da Gama).
  • Kopernikus (1473-1543) begründet das heliozentrische Weltbild, das der Erde nicht mehr die zentrale Rolle im Kosmos zuweist.
  • Die Erfindung des Buchdrucks mit beweglichen Lettern um 1450 ermöglicht es, geschriebenes Gedankengut in einer bisher noch nie dagewesenen Menge und Schnelligkeit zu verbreiten. Die Emanzipation aus der Abhängigkeit von überlieferten Autoritäten, besonders der Naturphilosophie des Aristoteles, und die Entwicklung einer auf das Quantitative ausgerichteten naturwissenschaftlichen Methode, J. Kepler (1571-1630), G. Galilei (1564-1642)) verändern das Bild vom Kosmos und der Natur entscheidend. Für Francis Bacon (1561-1626) ist das Ziel der Wissenschaft die Beherrschung der Natur zum Nutzen der Gesellschaft. "Knowledge is power!", "Wissen ist Macht!"

Mit der von Martin Luther (1483-1546) ausgelösten Reformation treffen die geistigen Umwälzungen schließlich auch die christliche Kirche. Die weltliche Haltung der Päpste und die Überspanntheit ihres Machtanspruchs, mangelnde theologische Bildung des niederen Klerus, kirchliche Misstände und allgemeiner Sittenverfall waren die Gründe für die Forderung nach einer grundlegenden Erneuerung der Kirche. Die Folgen der Reformation waren tiefgreifende Veränderungen im geistig-religiösen Bereich, in der politischen Landschaft Europas und im wirtschaftlich-sozialen Gefüge.

Erste Lebenshälfte

In diese in jeder Hinsicht umwälzende Zeit wurde Niccolò Pietro Michele Machiavelli am 4. Mai 1469 in Florenz geboren. Der Vater war ein praktischer Jurist und Notar. Seine Familie war vom Lande nach Florenz gezogen und übte dort ehrsame und freie Berufe aus. Niccolò Machiavellis Lebensweg liegt bis zu seinem 29. Lebensjahr, wo er zu einem höheren Beamten gewählt wurde, ziemlich im Dunkeln. Sein Bildungsgang ist uns nicht bekannt. Wir können ihn nur aus den Zeitgewohnheiten, seinen Werken und seinem Wirken erschließen. Er hat Latein gelernt - Griechisch konnte er wohl nicht - und die römischen Geschichtsschreiber bis ins Einzelne studiert. Die Lektüre des Livius hat ihn stark geprägt, aber wohl noch mehr der lebendige Umgang mit der lebendigen Substanz des Politischen, die wohl nirgends in solcher Konzentration und gleichzeitiger prismatischer Brechung anzutreffen war, wie gerade in Florenz, wo es im Zuge der republikanischen Versuche der letzten hundert Jahre keine Familie gegeben hatte, die nicht irgendwann entscheidend von einem politischen Tun oder einem politischen Unterlassen geprägt worden wäre. Und der junge Niccolò hatte schon viel erlebt: Die Verschwörung der Pazzi, bei der die Verschwörer die Medici in der Kirche während der hl. Wandlung - weil dann die Aufmerksamkeit aller dem Sakrament zugewandt war - ermorden wollten; den Einzug des Königs von Frankreich in seine Vaterstadt Florenz im Jahre 1494; die Vertreibung der Medici; den Triumpf und den Untergang Savonarolas. Er hatte die Schaffung der neuen Verfassung erlebt, die ganz und gar auf dem Axiom beruhte, dass niemandem getraut werden könne und dass daher jedes Organ von anderen Organen kontrolliert werden müsse. Sicher hatte er schon als junger Mensch gewusst, auf welche Weise sich die Gründer mancher der großen Herrschergeschlechter seiner Zeit einst aus dem Nichts zu Bewegern der Geschichte aufgeschwungen hatten. 1498 wurde Niccolò zum Sekretär der zweiten Kanzlei des Rates der Zehn gewählt.

Zweite Lebenshälfte

Vier Jahre später heiratete er mit 33 Jahren Marietta Corsini, mit der er sechs Kinder hatte. Der Rat der Zehn war die zweitoberste Behörde des Stadtstaates, und die zweite Kanzlei war eine Art Kombination von Außenministerium und Kriegsministerium. Ihr oblag es, Staatsverträge abzuschließen und Gesetze über Friedensschlüsse und Kriegserklärungen einzubringen, das Heerwesen zu organisieren und die Gesandten der Republik auszuwählen und zu instruieren. Durch die Ernennung war Machiavelli der oberste Beamte dieses Rates geworden. Wegen der außenpolitischen Kompetenzen des Amtes war seine Aufgabe keine reine Bürotätigkeit. 23-mal hat man ihn in wichtiger Mission ins Ausland geschickt, darunter viermal an den Hof des Königs von Frankreich, zweimal zu Kaiser Maximilian, zweimal an die Kurie zu Rom, dreimal nach Siena. Entscheidend für seine politische Sicht der Welt aber war seine Abordnung ins Feldlager Cesare Borgias, Sohn des regierenden Papstes Alexander VI., Heerführer und starker Mann des Kirchenstaates. Die Begegnung mit diesem Mann, der Fuchs und Löwe zugleich war, wurde zu seinem stärksten politischen Urerlebnis. - Bei allen Gesandtschaften war freilich Niccolò Machiavelli immer nur der zweite Mann. Der Titulargesandte war immer ein Vornehmer, der zu repräsentieren hatte und dem man den intelligenten Beamten beistellte, damit der Auftrag auch richtig ausgeführt werde. Machiavelli war immer der Mann im Hintergrund, der secretario fiorentino, der aus dem Schatten heraus wirkte und beobachtete und der, voll Leidenschaft für das politische Geschehen und doch scheinbar teilnahmslos, die Kunst der politischen Prognose begründete und entwickelte. 1512 wird die republikanische Partei in Florenz durch die Medici entmachtet, und Machiavelli wird in aller Form seiner Ämter enthoben. Er wird der Beteiligung an einer Verschwörung beschuldigt und gefoltert. Wieder auf freiem Fuß, zieht er sich mit Frau und Kindern auf seinen Bauernhof bei San Crasciano - 10 Meilen von Florenz entfernt - zurück. Dort verbringt er vierzehn von den fünfzehn ihm noch verbleibenden Lebensjahren in aufreibendem Kampf gegen drohende Armut, aber von Hoffnung aufrechterhalten. Wäre ihm dieses Unglück nicht zugestoßen, hätten wir nie etwas von ihm gehört; denn in diesen Hungerjahren schreibt er die Werke, die die Welt bewegen sollten. 1526 ist er soweit rehabilitiert, dass Florenz ihm wieder eine öffentliche Aufgabe übertragen kann. Er wird Kanzler der neugeschaffenen Festungsbehörde von Florenz. Er begnügt sich aber nicht mit den Funktionen eines Organisators: Er verhandelt nach allen Seiten, um seine Vaterstadt vor dem Schicksal des eben geplünderten Roms zu bewahren. Dann kommt die große Chance: 1527 werden die Medici wieder vertrieben. Machiavelli bewirbt sich hoffnungsvoll um seine alte Stelle als Sekretär des Kriegsrats der Zehn, aber seine Bewerbung wird mit 555 gegen 22 Stimmen abgewiesen; durch sein Paktieren mit den Medici hatte er sich das Vertrauen der Republikaner verscherzt. 12 Tage später, am 22. Juni 1527 stirbt er mit 58 Jahren. Seine Familie bleibt in bitterer Armut zurück.

Das literarische Werk

Die Schriften Machiavellis kann man in drei Gruppen einteilen:

  • Die im Amte erstatteten Gutachten, Denkschriften, Gesandtschaftsberichte, Länderberichte. Darin nimmt er zu konkreten Zeitproblemen Stellung. Er bleibt dabei völlig dem Anlass verhaftet, weitet aber fast jedesmal das Tatsächliche zur Grundsatzperspektive aus, die ihm erlaubt, aus dem Ereignis eine Regel abzuleiten.
  • Die sehr zahlreichen Briefe, in denen er ohne jedes Moralisierende geradeaus schreibt, was er denkt, und die Erörterung der politischen Ereignisse mit kleinen Geschichtchen, "Favole" (wie er selber sagt), vermengt.
  • Die großen Werke. Am bekanntesten ist der "Il Principe", das Buch vom Fürsten. Allgemeiner und bedeutender - aber wohl weniger gelesen - sind die "Discorsi", die Abhandlungen über die ersten zehn Bücher des Titus Livius, des römischen Geschichtsschreibers (59 v. Chr. - 17 n. Chr.).

Das Buch, das Machiavelli selber am höchsten schätzte, die "Arte della guerra", Traktat Über die Kriegskunst, stellt das erste ernstzunehmende militärwissenschaftliche Werk der nachantiken Literatur dar. Die "Istorie fiorentine", die Geschichte von Florenz, kann wohl als das erste Werk der kritischen Geschichtsschreibung bezeichnet werden. Darin ist nichts mehr von Chronikschreiberei und prunkender Rhetorik ad maiorem gloriam des Auftraggebers zu finden. Vielmehr ist mit subtiler analytischer Methode aufgezeigt, welche nachprüfbaren Ursachen die einzelnen historischen Ereignisse hervorgebracht haben.
Auf eine weitere detaillierte Erörterung der genannten Schriften muss hier verzichtet werden. Aber ein zentraler Aspekt seiner Schriften, nämlich die völlige Trennung von politischem Handeln und herkömmlicher Ethik, muss herausgehoben werden.

Machiavellismus

Geistesgeschichtlich ist diese Trennung von politischem Handeln und herkömmlicher Ethik völlig neu. Die seit der Antike übliche Zusammengehörigkeit von Politik und Ethik wird von Machiavelli aufgebrochen. Ihm geht es nicht um ein auf ethischen Idealen aufgebautes politisches Handeln, sondern um das Erreichen von politischen Zielen, ohne Berücksichtigung moralischer Nebenbedingungen. Zum politischen Handeln bedarf es der Macht. Die Erkenntnis, wie Macht erworben und errungen wird, gewinnt Machiavelli durch die Analyse dessen, was wirklich ist - ohne überlagernden ideellen Ballast. Zitat:
"... denn zwischen dem Leben, wie es ist, und dem Leben, wie es sein soll, ist ein so gewaltiger Unterschied, dass derjenige, der nur darauf sieht, was geschehen sollte, und nicht darauf sieht, was in Wirklichkeit geschieht, seine Existenz viel eher ruiniert als erhält. Ein Mensch, der immer nur das Gute möchte, wird zwangsläufig zugrunde gehen inmitten von so vielen Menschen, die nicht gut sind."

Träger der Macht ist ein Mann, der sich sowohl durch virtù als auch durch fortuna auszeichnet - vielleicht am besten übersetzt durch Tatkraft oder Machtwille und Fortune. Der Herrscher, der Träger der Macht, soll in der Lage sein, sich den äußeren Erfordernissen anzupassen und darüberhinaus die Tatkraft besitzen, das wankelmütige Schicksal zu bezwingen. Machiavellis Prototyp hierfür ist ein Mann, den er mit schrankenloser Bewunderung in allem, was er tut, genau beobachtet und bekämpft, und der zwei Jahre lang für ihn das Vorbild eines guten Staatsmannes und für Florenz der erklärte Feind ist: Cesare Borgia.

Erste Aufgabe des Herrschers ist es, den Staat zu erhalten, Conservare il stato.
Machiavelli leidet an dem unerträglichen Zustand Italiens und er träumt von einem geeinten Italien. Für Florenz wünscht er sich eine Erneuerung nach dem Vorbilde Spartas und Roms. Für eine solche politische Aufgabe bedarf es eines Mannes, der mit Tatkraft und absolutem Machtwillen den zufälligen äußeren Umständen trotzt und ohne moralische Skrupel - nur sein Ziel im Auge - handelt. Im "Il Principe" liefert er dafür einen Leitfaden des Machterwerbs und des Machterhalts, der wohl zeitlos und systemunabhängig ist.