"Du Sintschiff!" - Von Sendschöffen, Ordnungswidrigkeiten und Bußgeldern[0]
In vielen Gegenden der Mosel wird das oben in mundartlicher Umschreibung wiedergegebene Schimpfwort auch heute noch verstanden, und oft ist es das letzte Wort in hitziger Auseinandersetzung. Je nach Anwendung liegt dabei die Schwere der Beschimpfung zwischen Klugschwätzer mit leichtem Unterton zur Heuchelei und dem derben Götz-Zitat. Aber kaum einer der Schimpfbeteiligten weiß, dass ein "Sintschiff" zu den Zeiten des Kurfürstentums ein Kirchenschöffe einer Pfarrkirche war. Dabei weist der Wortbestandteil "Sint" auf "Sankt" oder "Saint" hin. Sint- oder Sendschöffen waren also - im Gegensatz zu den profanen Schöffen bei weltlichen Gerichten - die Kirchenschöffen, die in den alten Kirchenbüchern lateinisch als synodales bezeichnet wurden. Was hatte es mit diesen merkwürdigen "Heiligen" für eine Bewandtnis? Seit wann gab es sie? Was waren ihre Aufgaben und Befugnisse? Die Beantwortung dieser Fragen gibt uns sehr aufschlussreiche und auch unterhaltsame Einblicke in das soziale Alltagsleben des Trierer Landes im 16. - 18. Jahrhundert.
Die Einrichtung der Institution der Sendschöffen geschah in der Aufbruchszeit nach dem Konzil von Trient, das mit Unterbrechungen von 1545-1563 dauerte und in dem die katholische Kirche auf die Reformation und auf die von ihr aufgezeigten Missstände reagierte. Zwar standen im Konzil und danach in den Jahren der Umsetzung und Nachbereitung die Definition bzw. Neuformulierung von Glaubensinhalten (neuer Katechismus, neue autorisierte Bibelübersetzung [Vulgata], Sakramentslehre, Priestertum, Bedeutung der Tradition, Erbsünde) im Mittelpunkt, aber die pastoralen Aufgaben der Kirche - inhaltlich definiert aus der Sicht der damaligen Zeit - gewannen stärker an Bedeutung. Im Trierer Erzbistum hieß das: Für die Hirten wurde die dauernde Anwesenheit in der Pfarrei eingefordert, der Bildungsstand des niederen Klerus angehoben und die Zölibatsverpflichtung durchgesetzt. Dabei erstaunt nicht, dass bei Hirten mit solchen Schwächen auch bei den Schafen "allerhand Ärgernis hin- und wieder eingerissen" war, wie der Erzbischof und Kurfürst Johann von Schönenburg anlässlich einer Pfarrvisitation im Jahre 1589 mit "Beschwernis" zur Kenntnis nehmen musste[1]:
An Sonn- und Feiertagen wird nicht die Messe besucht, sondern äußerlichen Geschäften oder anderen "üppigen Sachen" nachgegangen, es wird Gott gelästert und geflucht, die Fasttage nicht gehalten und auch sonst Gottes und der Kirche Gebote überschritten. Für den Erzbischof war klar: Es bestand dringender Handlungsbedarf. Da es ihm von Amts wegen auferlegt war, nicht nur die Ehre Gottes zu erhöhen, sondern auch die Seligkeit seiner Untertanen zu fördern, erachtete er es für sinnvoll und notwendig, zur Verbesserung der öffentlichen Sitte und Moral einen langen Katalog der Bußgelder und Ordnungswidrigkeiten aufzustellen, nach dem Senddechanten und -schöffen bestimmte Vergehen ahnden mussten. Die Ordnungsstrafen sollten unter "zeitiger Betrachtung des Alters, Standes, Amts, Berufs, Ärgernisses, verharrlichen Continuierens und des unverbesserlichen Fortfahrens des Übeltäters" verhängt und die Strafhöhe gegebenfalls nach oben oder unten angepasst werden. Bei nicht Strafmündigen oder Unzurechnungsfähigen sollten die Anstifter belangt werden. Soweit die juristische Einleitung des Ordnungswidrigkeitenkatalogs.
Bevor die Straftaten im einzelnen aufgelistet werden, spricht aber erst noch der Landesherr in seiner Eigenschaft als Bischof: "Nach Christi vorgeschriebener Ordnung" sollen die "Übertreter" vor der Rüge und Anklage brüderlich zur Besserung ermahnt werden, auch um künftige Klage und Strafe zu verhüten. Allerdings soll über die pastorale Ermahnung nicht die Bestrafung der Vergehen gemäß nachfolgendem Katalog vergessen werden.
Die Vergehen sind ohne irgendeine Systematik einfach durchnummeriert. Wir wollen sie hier in vier Kategorien einordnen:
Zweimal im Quartal sollte der "Sendt" gehalten werden und hierhin sollten alle die vorgeladen werden, die im Sinne des Bußgeldkataloges auffällig geworden waren. Die Bußgelder wurden dreigeteilt: ein Drittel dem Senddechanten für "allerhand Unkosten", ein Drittel den Sendschöffen für ihre jährliche Mühe und ein Drittel für das örtliche Pfarrvermögen oder "sonsten zum frommen Gebrauch". Außer den gewöhnlichen Unkosten sind alle Spesen der Sendschöffen - insbesondere "alle Fressereien" (also sogenannte Geschäftsessen) - abgestellt und verboten.
Aufgrund dieses Erlasses sollten sich die Sendschöffen in den Pfarrgemeinden lokale "Geschäftsordnungen" geben, was wohl auch geschah[3]. Aber der Drang, sich im 17. Jahrhundert als Sendschöffe zu betätigen, muss nicht sehr groß gewesen sein, so dass Kurfürst Johann Hugo von Orsbeck sich mit Erlass vom 24. Juli 1693[4] gezwungen sah einzuschreiten:"Da viel Sendscheffen-Stellen wegen verweigerter Annahme derselben durch die dazu Ernannten unbesetzt sind, diese Ämter aber sowohl die Beibehaltung des Gottesdienstes, guter Sitten und Disciplin als auch die Erhaltung der Güter, Renten und Gerechtsame der Kirchen bezweckt, und deren Verwaltung ebenso nöthig als verdienstlich ist, so wird landesherrlich verordnet:". Die Anordnung selbst ist sprachlich sehr barock formuliert, sie sagt aber im Klartext deutlich: Wer künftig zum Sendschöffen gewählt wird und sich ohne hinreichenden Grund weigert, das Amt anzunehmen, ist danach nicht mehr geeignet, ein anderes Ehrenamt bei Gericht oder in der Gemeinde zu bekleiden. Darüberhinaus muss er mit "willkühriger Straff" rechnen. Das ist deutlich.
Was waren die Gründe für die offenbar regelmäßige Ablehnung des angetragenen
Sendschöffenamtes? Zunächst waren für die Menschen im Kurfürstentum die
allgemeinen Lebensumstände - trotz Beendigung des 30jährigen Krieges - auch
noch in der 2. Hälfte des 17. Jahrhunderts weiterhin sehr bedrückend.
Kriegswirren, häufige Besatzungen von französischen Truppen, damit verbundene
Zusatzabgaben, Zerstörungen vieler Burgen, Städte und Orte (Wittlich, Pfalzel,
Ehrang und Mayen im Jahr 1689) und die Bewältigung ihrer Folgen dürften den
Alltag jener Zeit bestimmt haben. Weiterhin legte die Erinnerung an die
Hexenprozesse (noch bis 1654) und an die diesbezüglichen Gemeindeausschüsse
den Menschen nahe, sich möglichst aus allem herauszuhalten, was nicht
unmittelbar der Sorge um das tägliche Brot diente. Die schwierigen Umstände
des Alltags und die Erfahrungen der Vergangenheit werden sicherlich mit dazu
beigetragen haben, ein Sendschöffenamt dankend abzulehnen. Ein weiterer Grund
könnten die Verpflichtungen gewesen sein, die sich aus dem Amt selbst ergaben.
Mit einem Schnüffel-, Wächter- und Richteramt in der kleinen überschaubaren
Dorfgemeinschaft konnte man sich kaum Freunde machen. Der soziale
Prestigegewinn spielte offenbar nur eine untergeordnete Rolle.
Im 18. Jahrhundert scheint es nicht mehr schwierig gewesen zu sein, Sendschöffen zu
finden. Vielleicht hatte der geharnischte Erlass des Landesfürsten von 1693
gewirkt. Aber mehr noch dürfte es den nun halbwegs friedlichen Zeiten, die
nach dem Frieden von Rastatt und Baden 1714 in die Trierer Lande eingezogen
waren, zu verdanken gewesen sein, dass die Belastungen des
Sendschöffenehrenamtes offenbar nun anders gesehen wurden. Ob die Sendschöffen
aber ihrer herausgehobenen Stellung als Vorbilder und Wächter der öffentlichen
Moral auch immer gerecht wurden, ist damit natürlich nicht gesagt. Wir werden
dafür ein Beispiel geben. Bis zur französischen Besetzung des Kurfürstentums
im Jahre 1794 bestanden die Sendschöffengerichte. Danach lösten sie sich
langsam auf, und die Synodalen übernahmen im Rahmen des Kirchenvorstandes
Aufgaben der Vermögensverwaltung der Pfarrei. Als der linksrheinische Teil des
Kurfürstentums nach dem Frieden von Campo Formio 1797 verwaltungsmäßig und im
Friedensvertrag von Lunéville 1801 auch völkerrechtlich französisches
Staatsgebiet wurde, war für kirchliche Laienrichter natürlich kein Platz mehr.
Nach dem kurzen kulturgeschichtlichen Abriss sollen nun ausgewählte Vorgänge
dargestellt werden, deren Behandlung den Sendschöffen oblag oder von denen die
Sendschöffen glaubten, dass sie sich mit ihnen beschäftigen müssten. Die Fälle
sind aus der 2. Hälfte des 18. Jahrhunderts und wurden in Wittlich und Ürzig
protokolliert. Die genannten Familiennamen sind auch heute noch weit
verbreitet, und Vermutungen über genealogische Zusammenhänge zwischen den
genannten Familiennamen und Lesern gleichen Namens könnten zutreffend sein.
Die Sendschöffensitzungen fanden nach Maßgabe der örtlichen Sendordnungen im allgemeinen mehrmals im Jahr statt. Offenbar bestand die Anweisung des Generalvikariats, mindestens einmal im Quartal eine Sitzung einzuberufen, auch wenn es keinen unmittelbaren Anlass gab. Die Sendschöffen kamen also zusammen und stellten mitunter fest: Es gibt eigentlich nichts von Bedeutung, was der Send verhandeln könnte. Sehen wir in ein Originalprotokoll des Wittlicher Send[5] , über welches Universalthema dann gesprochen wurde:
Das sich von selbst entwickelnde Thema der Sendschöffensitzung ist also "Die Jugend von heute". Der Stadtlehrer wird spontan herbeizitiert, es werden ihm Vorhaltungen gemacht, und er verspricht, die Ordnung der Jugend zu verbessern. Danach ist die Sitzung geschlossen und alle, bis auf den armen Schulmeister, gehen zufrieden nach Hause. Ein solcher Sitzungsablauf und die beschriebene "Problemlösung" sind nicht ganz unbekannt.
Ein schon fast klassischer Fall von Ordnungswidrigkeit liegt den Sendschöffen in dem folgenden Fall zur Entscheidung vor. Da lärmt im Jahre 1787 eine Clique von sieben Junggesellen von 17-29 Jahren, die zum Teil Brüder und Vettern sind, sehr ausgelassen und wohl auch sehr sangesfreudig durch Wittlich. Am Tag vorher wurde über ihren Militärdienst entschieden. Ob sie nun Abschied feiern oder ihrer Freude Ausdruck verleihen wollten, dass sie davon gekommen waren, bleibt offen. Der Nachtwächter stellt sie zur Rede, sie aber feiern weiter.
Auf die Fragen des Gerichts, ob ihnen das Gebot der Nachtruhe nicht bekannt sei und warum sie der Aufforderung des Nachtwächters zur Beendigung ihres Treibens nicht gefolgt seien, antworten sie mit entwaffnender Offenheit: Das Gebot der Nachtruhe sei ihnen natürlich bekannt gewesen, aber für den Tag der Musterung glaubten sie sich darüber hinwegsetzen zu können. Da der Nachtwächter sie aber gestellt hätte und er sie nun ohnehin anzeigen würde, hätten sie eben einfach weiter gefeiert. Die Strafe von 2 Pfund Wachs[16] für insgesamt 7 Personen nebst den Gerichtsgebühren zeugt von Verständnis für den jugendlichen Überschwang. Es ist anzumerken, dass alle vor das Sendschöffengericht zitierten Ruhestörer auch erschienen waren. Das war nicht selbstverständlich, da zu der Zeit die Autorität und das Durchsetzungsvermögen des Send schon im Schwinden war.
Wie allgemein bekannt, wurde im 18. Jahrhundert für das gemeine Volk Sexualität nur in der Ehe toleriert, und die Ehe konnte praktisch nicht geschieden werden. Die Konflikte, die sich aus dieser gesellschaftlichen Ehenorm und dem Verhalten der Menschen in ihrer jeweiligen individuellen Lebenssituation ergaben, nahmen naturgemäß einen breiten Raum der Sendschöffentätigkeit ein, seien es Vergehen aufgrund unsittlicher Aktivitäten vor oder außerhalb der Ehe, Anzeigen wegen gewalttätiger Auseinandersetzung in der Ehe oder Klagen wegen böswilligen Verlassens des Ehepartners. Dabei entging der Sozialkontrolle in der kleinen Stadt, erst recht im Dorf, offenbar nichts, wie die beiden nächsten Fälle zeigen.
Das wachsame Auge der Öffentlichkeit nahm alles wahr, und es stellte auch leicht Zusammenhänge her zwischen zwei Ereignissen, die 7 Monate auseinanderlagen. Zur Höhe der Geldstrafe - daneben war ja auch noch die Strafe von 1 Pfund Wachs fällig - sei bemerkt, dass dieses Sendschöffengericht am 11. Nov. 1793 für die sonntagnachmittägliche unerlaubte Ernte von 2 Körben Trauben aus drei fremden Weinbergen nach der allgemeinen Lese eine Strafe von 24 Albus verhängte. Sie war die letzte vom Schöffengericht in Ürzig verhängte Strafe[19].
In Wittlich wurde Heinrich Caspari[20] vom dortigen Send am 10. März 1786[21] wegen "schlechtem Verhalten" zu einem halben Pfund Wachs für die Kirche nebst einer Geldstrafe von 36 Albus verurteilt. Er hatte den Johann Nauert aus Bernkastel bei sich übernachten lassen. Dies wäre für sich allein natürlich kein Fall für den Send gewesen. Aber Johann war mit der Tochter Margarethe[22] seines Gastgebers verlobt, und der Vater hatte seine Tochter am nächsten Tag mit ihrem Verlobten nach Bernkastel ziehen lassen[23].
Die Fälle, in denen der Send wegen "formloser Scheidung" einschritt, sind - zumindest in Wittlich - nicht selten. So musste sich 1785 Matthias Arendt[24] vor dem Send rechtfertigen, weil er "seine Ehegemahlin von seinem Ehebett verstoßen" und sie jetzt ihr "Brodt von Thür zu Thür suchen muß", zum Ärgernis der ganzen Stadt. Er wird angewiesen, sich unter Androhung einer Strafe von 2 Pfund Wachs nebst der synodalischen Geldstrafe binnen 24 Stunden zu seiner Ehefrau zu begeben.
Wegen desselben Verstoßes wird Hektor Wenger[25] vor den Send zitiert und spitz gefragt, ob denn das hochwürdigste Konsistorium, d.h. das oberste kirchliche Gericht, ihm eine Scheidung der Ehe zugestanden hätte, so dass er sich von seiner Ehefrau "absondern" und zum "Ärgernis der Stadt eine andere Behausung auswählen" durfte. Da Wenger Eigenmächtigkeit einräumen muss und die Ehefrau nach entsprechender Rückfrage ihren Ehemann wieder aufnehmen will, ist die Sache mit einer Buße von einem Pfund Wachs an die Kirche und der üblichen synodalischen Geldbuße erledigt.
Schwieriger war die Situation beim Ehepaar Johann und Barbara Klein[26].
Sie hatte sich seit langer Zeit "quoad thorum et habitationem" (von Tisch
und Bett) von ihm getrennt, da er öfter gewalttätig gegen sie geworden war
und sie deshalb schon einmal nachts in ihres Vaters Haus hatte Zuflucht suchen
müssen. Offenbar hatte sie beim Konsistorium um Scheidung ersucht, das Gesuch
war aber abgelehnt worden. Sie wurde unter Androhung einer Wachsstrafe von 2
Pfund nebst der synodalischen Konventionalstrafe dazu angehalten, innerhalb
von 2 Wochen ihren Ehemann wieder aufzunehmen. Mit dem Ehemann war aber
offenbar nicht zu sprechen. Er wurde wegen seiner "Halsstarrigkeit" zunächst
zu 2 Pfund Wachsstrafe nebst synodalischer Geldbuße verurteilt, danach wurde
bei der Obrigkeit Anzeige erstattet und Antrag auf Zwangsvorführung im
Pfarrhof gestellt. An dieser Ehe war wohl nichts mehr zu heilen.
Handgreifliche eheliche Auseinandersetzungen waren leider nicht selten. Da die Neigung oder
Angewohnheit, Konflikte mit Gewalt zu lösen, sich irgendwann während der
Persönlichkeitsentwicklung unheilvoll festsetzt, ändern gutgemeinte pastorale
Worte oder synodalische Strafen kaum etwas an diesem negativen
Persönlichkeitsmerkmal. Die Täter - Täterinnen sind nicht dokumentiert - waren
deshalb meist Wiederholungstäter. Das nachfolgende Beispiel eines
"Weiberschläger" zeigt dies auf.
Zusammengefasst: Der Ehemann neigt zur Gewalttätigkeit, und die Ehefrau hat eine voreheliche Liaison ihres Mannes nicht verarbeitet. Sie nennt die Frau von früher eine Hure. Diesen Titel findet der Ehemann gar nicht gut. Er wird handgreiflich....
Gesellschaftliche Institutionen sterben nicht plötzlich, sondern sie gehen unmerklich, dafür aber umso unaufhaltsamer langsam zugrunde, wenn ihre Zeit gewesen ist. In der Rückschau sind die Zeichen des Niedergangs leicht festzumachen, die Zeitgenossen konnten sie aber leicht übersehen. Der Zustand des Wittlicher Sends kann natürlich nicht so ohne weiteres auf andere Sendgerichte übertragen werden, aber es gibt auch keinen Grund, seine Situation als die Ausnahme anzusehen.
Im Jahre 1787 war die Arbeit des Sends gekennzeichnet durch einen starken
Akzeptanzverlust, der einherging mit einem entsprechenden Autoritätsverlust.
Beides dürfte zum Teil auf ein mangelndes Bewusstsein der Sendschöffen für ein
beispielgebendes Verhalten in der Öffentlichkeit zurückzuführen sein. Die
Obrigkeit, vertreten durch Schultheiß oder Amtmann, war auch immer weniger
bereit, die Zwangsmittel anzuwenden, mit denen störrische Bürger dazu gebracht
werden konnten, sich dem Send zu unterwerfen. Zu dem Autoritätsverlust nach
außen trat eine mangelnde Kollegialität nach innen. Wenn dann auch noch
Spannungen mit dem Pfarrer[30]
dazukamen, so konnte das Ende dieser Institution nicht mehr fern sein.
Die folgende Abbildung zeigt das Faksimile des Protokolls der Synodalsitzung des
Wittlicher Send vom 3. Juni 1787 zusammen mit einer zeilengerechten
Transkription.
Den 3. Junii wurden
nach Befehl ad sy. die Synodales beruffen und befragt ob dieses Quartal nichts seye vorgangen in der Stadt oder sonsten worüber sie zu klagen hätten. R. Was vorgefallen seye hätten sie gegen den Nagel, welcher das die Synodales mit unter dem Weinschenken als Kerlen aus- geschryen und er thäte in das Send schmeisen. Wid Wiederum hat er den Heren Canaris, wie aus dem protokollo geschändet. Aug Auch beklaget sichs synodus Wittlichacensis, das der Nagel wan er ad Synodum beruffen wird, niehmahlen erscheinen thut. Wiederum [Weiterhin] klagen sie contra synodalem Schloeder, das er in verflossene Fastenzeit die ganze Nacht mit Spielen und Tanzen zugebracht, worüber die ganze Stadt sich geärgeret. dero selben begafen sie unterthänigst sowohl wegt was ein solches Auch thäte er seine Frau mit denen Wärweren [Marktleuten] herumziehen lassen bey Tag und Nacht, welches ihm unter einer Straff Selbiges zu änderen möge anbefohlen werden. Dieß weiteres wüsten sie nichts mehr. Also ist das protocollum beschlossen und haben und haben sich Synodales eigenhändig unterschrieben. Gottard KeuckerSendschoeffe JW. KeuckerSendschoeffe Joseph DrägerSendschöpffen J:Jakob MertenSendscheffe Baltasar HeinzSendscheff in fidem subscripsi |
Der hier genannte Nagel
[32]
war offenbar ein Intimfeind des Send, und er konnte seine öffentlichen
Schmähungen gegen den Send unbehelligt machen. Kleriker ging er sogar direkt an.
So klagte der Vikar Johann Baptist Canaris
[33]
am 31. Mai 1787 vor dem Send
[34]
, dass der Nagel ihn in der Vikarie in übelster Form beschimpft und beschuldigt
habe und zwar mit folgenden Injurien: "Er sei ein Ehebrecher, Hurenpfaff,
Betrüger und der schlechteste Kerl auf Erden und er wäre nicht würdig an den
Altar zu treten." Er habe von dem Nagel verlangt, die schlimme Anschuldigung, er
sei ein Ehebrecher, vor dem Send zu beweisen. Das Protokoll jener Sendsitzung
endet mit dem resignierenden Satz: "Oben benanter Nagel ist ad synodum citiret
worden, aber nicht erschienen." Hier in diesem Protokoll werden die alten Klagen
gegen den Nagel noch einmal wiederholt, aber der Beschluss, die zwangsweise
Vorladung des Nagel vor den Send bei der Obrigkeit zu beantragen, wird nicht
gefasst. Zumindest der Nagel konnte mit dem Send machen, was er wollte. Und so
etwas sprach sich natürlich schnell herum.
Der nächste Tagesordnungspunkt beschäftigt sich mit dem öffentlichen Verhalten des
Sendschöffen Johann Philipp Schloeder, der abwesend ist. Der Grund seiner
Abwesenheit ist nicht bekannt. Es ist nur schwer mit unserem Rechtsgefühl, mit
der Forderung von einem fairen Prozess und mit unserer Vorstellung von einer
kollegialen Zusammenarbeit zu vereinbaren, dass der Send über einen seiner Sendschöffen
in Abwesenheit spricht und urteilt. Johann Philipp Schloeder
[35]
war zu dem Zeitpunkt 53 Jahre alt und seit 18 Jahren Sendschöffe. Einen Tag vor
dem Aschermittwoch der besagten Fastenzeit hatte er in 2. Ehe eine 25jährige
geheiratet, mit der er danach - aus der 1. Ehe lebten noch sechs Kinder -
weitere acht Kinder haben sollte. In der Heiratsmatrikel nennt der Pfarrer ihn
einen "altgedienten Synodalen". Was könnte der beschuldigte Sendschöffe
angesichts dieses Hintergrundes wohl zu den Vorwürfen gesagt haben? Jedenfalls
nahm er an den weiteren Synodalsitzungen nicht mehr teil und schied aus dem Send
aus.
Es ist nach dem Gesagten nicht weiter verwunderlich, dass bei der geschwundenen
Autorität des Sends und der Disharmonie zwischen den Sendschöffen ernst zu
nehmende Synodalsitzungen immer seltener wurden. Der Send kam zwar zusammen,
aber nur um zu schwatzen, manchmal auch um sich zu entrüsten oder sich gar still
an dem einen oder anderen Vorfall zu ergötzen. Was aber gänzlich fehlte, war der
Wille zum Handeln oder wenigstens zum Beschlussfassen. Dafür ist die Sitzung vom
28. Februar 1788 in Wittlich ein Beispiel
[36].
Was war nun Gegenstand dieser Altherrensitzung mit dem Durchschnittsalter von 60 Jahren:
Die Übertretungen Nr.1 und Nr. 3 waren wohl schon zu dieser Zeit nicht mehr als bußgeldfähig
durchsetzbar und der andere Vorgang sollte offenkundig gar nicht ernsthaft
aufgeklärt - erst recht nicht weiter verfolgt - werden. Denn wie ist es sonst zu
erklären, dass die allgemeine Beschuldigung gegen "zwey Frauleuth mit Namen Jacobi"[38]
, von denen in der Stadt mindestens sechs in Frage kamen, nicht durch die Vornamen
näher konkretisiert wurde.
Resumée: Eine Sendsitzung um ihrer selbst willen, formal und inhaltlich mehr ein
Biertischgerede als eine Gerichtsverhandlung, jedenfalls aber ohne jede Außenwirkung.
Braucht man eine solche gesellschaftliche Institution? Für die
Sendschöffengerichte im Kurfürstentum Trier wurde diese Frage sechs Jahre später
durch Napoleon beantwortet.
Anmerkungen
[0] Erstveröffentlichung im "Jahrbuch 2003" des Kreises Bernkastel-Wittlich, ISBN 3-924182-42-6
[1] Erlass des Erzbischof und Kurfürsten Johann von
Schönenburg vom 16. August 1589, in J. J. Scotti, Sammlung der Gesetze und
Verordnungen des ehemaligen Churfürstentum Trier, Düsseldorf, 1832
(=SCOTTI), hier S. 535
[2] Zum Preisvergleich sei angeführt, dass 1590 für
eine kirchliche Hochzeit im Trierer Land 12 Albus an kirchlichen
Amtsgebühren (Stolgebühren) zu entrichten waren und eine letzte ölung für
die Hinterbliebenen mit 2 Albus zu Buche schlug. (Erlass des Erzbischof und
Kurfürsten Johann von Schönenburg vom 25. Mai 1590 (SCOTTI,
S. 543))
[3] Vor und nach dem Erlass von 1589 sind lokale
Sendordnungen erlassen worden, namentlich für die Ämter Bernkastel, Baldenau
und Hunolstein (1573 und 1575), Limburg (1583), Wittlich (1587), Hillesheim
(1589) und Daun (1592) (SCOTTI, S. 541)
[4] Erlass des Erzbischof und Kurfürsten Johann Hugo
von Orsbeck vom 24. Juli 1693 (SCOTTI, S. 725). Weitere kurfürstliche Erlasse zur Sendschöffenthematik sind nicht bekannt.
[5] Die hier wiedergegebenen Transkriptionen halten
sich genau an die handschriftlichen Zeichen. Es wurden lediglich im Sinne
der besseren Lesbarkeit die Substantive durchgängig groß geschrieben. Für
wertvolle Hilfestellung bei der Entzifferung der Handschrift, der
Interpretation der Orthografie und beim Verständnis einiger Wortbedeutungen
danke ich Prof. Dr. Erwin Schaaf. Dank geht auch an Reinhold Schneck,
Organist, Chorleiter und Archivar der St.-Markus-Kirche in Wittlich, für die
freundliche überlassung einiger seiner Transkriptionen.
[6] Archiv der Kath. Pfarrgemeinde St. Markus,
Wittlich, Synodalprotokolle (=AKPM), hier S. 59
[7] Das war zu dieser Zeit der Jakob Hensch, ledig, 37
Jahre alt. Er starb mit 45 Jahren (s. Hans-Peter Bungert, Einwohnerbuch der
Stadt Wittlich, 66352 Großrosseln, 2002 (=BEbW), hier S. 41)
[8] AKPM, S. 65
[9] S. v. Johann Georg Ernst Bruck und Anna Elisabeth
Loersch, * 25.8.1760 in Wittlich (BEbW, #720.3)
[10] S. v. Johann Georg Ernst Bruck und Anna Elisabeth
Loersch, * 3.9.1763 in Wittlich (BEbW, #720.5)
[11] S. v. Georg Carl Keuker und Anna Catharina
Bernardi, * 16.4.1768 in Wittlich, (BEbW, #3067.3)
[12] S. v. Johann Abraham Maxstatt und Anna Elisabeth
Freudenburg, * 19.2.1768 in Wittlich (BEbW, #4304.7)
[13] S. v. Johann Jakob Jaeger und Anna Elisabeth
Raskop, * 17.7.1759 in Wittlich, (BEbW, #2802.3)
[14] S. v. Johann Peter Deunsch und Anna Christina
Komes, * 23.9.1764 in Wittlich, (BEbW, #1120.1)
[15] S. v. Thomas Mendling und Maria Susanna Maxstatt,
* 6.3.1762 in Wittlich, (BEbW, #4431.5)
[16] Die Wachsstrafe diente der Beschaffung von Kirchenkerzen; sie wurde in der
Regel verhängt.
[17] Protokollbuch des Kirchenvorstandes der Kath.
Pfarrgemeinde Ürzig ab 1793 (=PrBuU), hier S. 1
[18] Der Tagelohn lag zwischen 6 und 8 Albus, also entsprach die Höhe der Strafe
in etwa einem Wochenlohn.
[19] PrBuU, S. 2
[20] * um 1741 in Heidweiler, + 23.3.1804 in Wittlich,
1759 Eheschließung mit Maria Cath. Funck (BEbW, #885)
[21] AKPM, S. 54
[22] * 6.10.1765 in Wittlich, + 14.1.1814 in Wittlich (BEbW, #885.3)
[23] Beide heirateten. Noch im selben Jahr 1786 wurde
der Sohn Heinrich geboren, ob vor oder nach der Heirat ist nicht bekannt.
Das Ehepaar wohnte in Wittlich. Es hatte weitere sieben Kinder. (BEbW,
#4888)
[24] AKPM, S. 44
[25] AKPM, S. 43
[26] AKPM, S. 45
[27] AKPM, S. 60
[28] Hutmacher und Hosenstricker, * um 1757 in
Niederstadtfeld, + 1807 in Wittlich, seit 1783 verheiratet mit Barbara
Weinand, *1761 in Wittlich, + 1827 in Wittlich, erstes Kind geboren 1792
(BEbW, #6380)
[29] S. v. Jakob Reusch und Susanna Feller, * 29.6.1721
in Wittlich, + 25.12.1796 in Wittlich, erste Ehe mit A. B. Jung, zweite Ehe
mit A. Jakobina Gansen (BEbW, #5508)
[30] Von 1759 bis 1788 war Johann Georg Jacobi Pfarrer
in Wittlich. Zweimal, 1769 und 1783, wurden Beschwerden über ihn beim
Generalvikariat eingereicht. Er nahm es wohl mit einer ordentlichen
Rechnungslegung nicht so genau. Auch in der Sendsitzung vom 27.11.1787 ging
es um die Finanzen. Es sollten auf Anregung des Pastors die vorhandenen
Darlehensbriefe abgeglichen und erneuert werden. Aber der Herr Pastor
erschien nicht, und der Ofen im Sitzungsraum war auch nicht angemacht
worden. Deshalb zog der Send kurz entschlossen mit seinen "Briefschaften" in
des Sendschöffen Gotthard Keukers "Behausung".(AKPM, S. 68)
[31] AKPM, S. 64
[32] Nach dem Synodalprotokoll vom 15.5.1787 (AKPM, S.
61) ist er Feldscher, also Wundarzt. Damit kann er eindeutig als der Chirurg
Ludwig Nagel, * 30.10.1746 in Starkenburg, + 1.3.1805 in Wittlich, Sohn des
Johann Heinrich Nagel, Scharfrichter, Henker, Wasenmeister und Sponheimer
Liktor in Starkenburg, identifiziert werden. (BEbW, #4877)
[33] S. v. Josef Canaris und Anna Lerscher aus Trier, + 23.3.1810 in Wittlich, 71
Jahre (BEbW, S. 36)
[34] AKPM, S. 63
[35] Er wurde in Klüsserath am 11.4.1734 geboren. In
Wittlich heiratete er 1764 die Agnes Bastgen, mit der er neun Kinder hatte.
Die Ehefrau starb beim neunten Kind. Am 20. 2.1787 (einen Tag vor
Aschermittwoch) heiratete er die 25jährige Barbara Becker aus Philippsheim.
Aus dieser Ehe erwuchsen acht Kinder. Von Beruf war er Rotgerber, 1769 wurde
er zum Sendschöffen ernannt (AKPM, S. 3), 1770 war er Bürgermeister von
Wittlich. Er starb am 6.4.1809.
[36] AKPM, S. 71
[37] S. v. Nikolaus Musweiler und Anna Margarethe Kneip,
* 11.9.1713 in Wittlich, + 30.11.1792 in Wittlich, Eheschließung mit Maria
Susanna Jakoba Neander am 4.2.1755, sieben Kinder (BEbW, #4843)
[38] Zur Auswahl stehen hier die sechs zu dieser Zeit
noch unverheirateten Töchter der Eheleute Johann Martin Jacobi (1715-1782)
und Maria Susanna Hamann (1730-1772) im Alter von 23-38 Jahren. (BEbW,
#2767)